Visuell bedingte Lern- und Entwicklungsauffälligkeiten

Visuell bedingte Lern- und Entwicklungsauffälligkeiten

Die Legasthenie ist eine umschriebene Lese-Rechtschreibstörung, die weder auf eine Seh- oder Hörstörung, noch durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder auf unzureichenden Unterricht zurückgeführt werden kann (Definition der WHO). Charakteristisch ist eine deutliche Verlangsamung der Lesegeschwindigkeit, bzw. eine erheblich höhere Anzahl von Rechtschreibfehlern.
Unter Dyskalkulie (Rechenstörung) versteht man die Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten, ebenfalls ursächlich ohne Seh- und Hörstörung, Intelligenzminderung oder unzureichenden Unterricht.

Die Ursachen der Legasthenie/Dyskalkulie sind noch nicht vollständig geklärt. Lese-, Rechtschreib- und Rechenschwächen können durch genetisch und frühkindlich erworbenen Hirnfunktionsstörungen sowie schulische, sozial-kulturelle und emotionale Faktoren verursacht sein. Die Schwierigkeiten können also durch vielfältige Faktoren hervorgerufen werden.
Die Diagnosestellung einer Legasthenie/Dyskalkulie sollte immer interdisziplinär erfolgen. Testverfahren, die in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Lerntherapie verwandt werden, können Aufschluss über das Ausmaß einer Lese- und Rechtschreibstörung/Rechenstörung geben.
Gleichzeitig sollte auch im augenärztlich-orthoptischen Fachbereich eine Untersuchung zur Funktionsfähigkeit der Augen vorgenommen werden, damit Störungen der Bildaufnahme im Auge oder der Verarbeitung im Gehirn das Erlernen des Lesens, Schreibens und Rechnens nicht erschweren und ggf. in einigen Fällen Symptome wie bei einer Lese-Rechtschreib- oder Rechenschwäche hervorrufen.
Dazu gehört der Ausschluss oder Nachweis möglicher optischer Unregelmässigkeiten (Fehlsichtigkeiten) wie z. B. einer Weitsichtigkeit (Hyperopie) oder einer Stabsichtigkeit (Astigmatismus), die korrigiert werden müssen.
In der augenärztlich-orthoptischen Praxis werden die Sehschärfe für Ferne und Nähe, die Stellung und Beweglichkeit der Augen, die Zusammenarbeit beider Augen, die Fähigkeit zur Naheinstellung (sog. Akkommodation), mögliche krankhafte Veränderungen des Auges und der Sehbahn und der optische Brechungszustand untersucht. Diese kann weitgehend unabhängig vom Alter und von der Mitarbeit des Kindes sicher erkannt und ausgeschlossen werden. Eine Korrektur der Fehlsichtigkeit durch eine Brille ist so wichtig, weil bei einer tatsächlich vorliegenden Lese-Rechtschreibschwäche/Rechenschwäche die optischen Voraussetzungen für den Sehsinn optimal sein müssen, damit für das betroffene Kind ein anstrengungsfreies Sehen ermöglicht werden kann.
Sehbedingte Anstrengungsbeschwerden sind vieldeutig. Herauszufinden, ob sie durch eine Fehlsichtigkeit, Störung der Naheinstellung der Augenlinse oder Fehlstellung der Augen (z. B. verstecktes/manifestes Schielen) bedingt sind, sowie die Behandlung dieser Störungen sind komplexe augenärztlich-orthoptische Aufgaben.
Zur korrekten augenärztlich-orthoptischen Ausmessung eines vermuteten Brechungsfehlers bei Kindern und Jugendlichen gehört das Verabreichen von Augentropfen, die eine Entspannung der inneren Augenmuskulatur (des sog. Ziliarmuskels) und zusätzlich eine Erweiterung der Pupille bewirken. Diese Tropfen dürfen nur bei medizinischer Indikation angewandt werden und sind daher nur in der augenärztlich-orthoptischen Praxis zu verabreichen. Bei dieser Untersuchung wird zusätzlich das Innere des Auges auf Unregelmäßigkeiten geprüft, z. B. ob eine Veränderung an der Netzhaut oder am Sehnervenkopf vorliegt. Dabei können auch seltene Krankheiten des Auges, die nicht sofort und ohne eine augenfachärztliche Ausrüstung erkannt werden können, ausgeschlossen werden.
Die Verordnung einer Brille auch bei geringen Fehlsichtigkeiten ist gerade bei Patient:innen mit einer Lese-Rechtschreibstörungen/Dyskalkulie zu empfehlen.
Mit der Korrektion aller durch die Augen bedingten Störungen schafft man die Voraussetzung für ein anstrengungsfreies Sehen, so dass sich die Kinder und Jugendlichen mit einer Lese-Rechtschreibstörung/Rechenstörung besser auf die Bewältigung ihrer Aufgaben konzentrieren können. Eine Verarbeitungsstörung des Gehirns wie die Lese/Rechtschreib-Rechenstörung kann durch keine Brille behoben werden. Wenn allerdings zusätzlich augenbedingte Störungen vorliegen, kann eine entsprechende Brille die Schwierigkeiten deutlich mindern.
Aber nicht immer ist eine Brillenkorrektion sinnvoll. Die individuellen Besonderheiten in der augenärztlich-orthoptischen Behandlung der betroffenen Kinder sollten immer gut erklärt und ausführlich mit den Eltern besprochen werden.
Gerade in der Thematik der Lese-Rechtschreib-Schwäche/Rechenschwäche wird werbetechnisch oft sog. Informationsmaterial an die Eltern herangetragen, das einen Erfolg bei der Überwindung der Legasthenie/Dyskalkulie verspricht, wofür es aber wissenschaftlich keine Belege gibt. (Dazu gehören die Prismenbehandlung bei Winkelfehlsichtigkeit mit der Mess- und Korrektionsmethodik nach Hans-Joachim Haase (MKH), Blicktraining mit dem FixTrain-Gerät, Rasterbrille und Farbfilter nach Helen Irlen).
Eine Amblyopie (Sehschwäche eines Auges) bedingt keine Legasthenie und ist mit ihr nicht gleichzusetzen. Sie ist eine augenärztlich-orthoptisch zu stellende Diagnose, die verschiedene Ursachen haben kann. Sie bedarf einer speziellen augenärztlich-orthoptischen Therapie (Ausgleich eines evtl. vorliegenden optischen Brechungsfehlers und „Trainieren“ des schwächeren amblyopen Auges durch Okkludieren, d. h. Zukleben des stärkeren Auges). Eine Legasthenie kann aber zusammen mit einer Amblyopie bestehen – beide Krankheiten müssen dann behandelt werden.
Wichtig bei der umfangreichen Diagnosefindung einer tatsächlich bestehenden Legasthenie/Dyskalkulie ist die Zusammenarbeit der betreuenden Augenärzt:innen und Orthoptist:innen mit den Kinder- und Jugendärzt:innen, Pädaudiolog:innen und HNO-Ärzt:innen sowie mit Kinder- und Jugendpsychiater:innen. Nach eingehender, interdisziplinärer Ursachenanalyse kann eine adäquate Therapie (Lerntherapeut:innen, Psycholog:innen, Ergotherapeut:innen, Logopäd:innen) begonnen werden.
Betroffene Kinder und Jugendliche nennen die deutlich verlangsamte Lesegeschwindigkeit und die Unfähigkeit, so schnell wie die anderen lesen und einen Text erkennen zu können, als sehr unangenehm. Um nicht weiter in ihrer Lese- und Schreibfähigkeit zurückzufallen, sollten sie regelmäßig täglich motivierend üben. Dabei obliegt Art, Inhalt und Umfang dieser Therapie den zertifizierten Lerntherapeut:innen.
Die augenärztlich-orthoptische Untersuchung ist ein wesentlicher Baustein in der Diagnosefindung einer Legasthenie/Dyskalkulie. Der Ausgleich einer sog. Fehlsichtigkeit und/oder Sehschwäche durch eine:n Augenärztin/-arzt in Zusammenarbeit mit der Orthoptist:in (spezialisierte Praxen) schafft erst die nötigen Voraussetzungen, um evtl. eine bessere Lese-Rechtschreib- und Rechenfähigkeit zu erlangen. Dies ist aber im Fall einer tatsächlich vorliegenden Legasthenie/Dyskalkulie noch nicht die vollständige und endgültige Therapie. Diese kann erst durch eine fachgerechte Diagnosestellung von Kinder- und Jugendpsychiater:in und zertifizierten Lerntherapeut:innen bestätigt oder ausgeschlossen werden.
Ungezieltes Therapieren in Unkenntnis vieler Aspekte und auch des Gesundheitszustandes der Kinder kann zwar zunächst vereinzelt erfolgreich erscheinen, wird aber der Gesamtproblematik nicht gerecht. Aus diesem Grund ist die interdisziplinäre ärztliche und medizinisch-therapeutische Diagnostik und Behandlung wichtig, um den psychischen und physischen Entwicklungsprozess der betroffenen Kinder zu unterstützen.

Weiterführende Informationen: 
Kreisel e. V., Institut für Weiterbildung und Familienentwicklung
www.kreiselhh.de
Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie
www.bvl-legasthenie.de
Fachverband für integrative Lerntherapie e. V.
www.lerntherapie-fil.de
LEGAKIDS
www.legakids.net

Unter visuellen Wahrnehmungsstörungen versteht man Störungen der sogenannten
elementaren und komplexen Sehfunktionen, der Kognition und weiteren Verarbeitungen im Gehirn. Dabei werden umgangsprachlich zwei Begriffe verwendet: VVWS (visuelle Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung) sowie CVI (cerebral visual impairment). Vereinfacht dargestellt handelt es sich um eine Störung des visuellen Systems im Bereich der visuellen Verarbeitung im Gehirn (postchiasmales System).

Die Ursache einer visuellen Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen im Kindesalter sind sehr unterschiedlich, meist liegt aber eine Sauerstoffunterversorgung des Gehirns während der Geburt vor. Im Erwachsenenalter sind es erworbenen Hirnschädigungen wie nach Schädel-Hirn-Trauma oder Schlaganfall.

Typische Symptome einer VVWS sind:

  • Überblick und visuelle Suche: Beeinträchtigungen der Geschwindigkeit und/oder Genauigkeit in der seriellen und parallelen Suche
  • Visuelle Raumwahrnehmung:
    • Raumrichtungen (rechts/links Unterscheidung, Inneres Koordinatensystem)
    • Längen-, Größen-, Distanzwahrnehmung beeinträcht
    • Mentale Raumvorstellung und kognitive Raumoperationen deutlich beeinträchtigt bzw. nicht möglich
    • Topographische Orientierung: Orientierungslosigkeit; Schwierigkeiten im Umgang mit Plänen
  • Räumlich-konstruktive Fertigkeiten
    • Einschränkungen im freien Zeichnen, Kopieren und Abzeichnen
    • Einschränkungen im freien Bauen, Bauen nach Anleitung/Vorlage und Nachbauen
  • Zeitliche Orientierung

Diese Störungen werden nicht in Screenings untersucht, sondern nur bei Verdacht und Ausschluss andere Ursachen. Neben Neuro- oder Schulpsychologen diagnostizieren auch weiterqualifizierten Ergotherapeuten oder Orthoptist:innen diese Störungen.

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