Der Weg zur Wiedervereinigung der Orthoptistinnen in der DDR und in der BRD
Ein Rückblick im Jubiläumsjahr – 50 Jahre BOD
Lang, lang ist es her … Nun gehört die Wende/Wiedervereinigung im November 1989, an die davor keiner mehr geglaubt hatte, schon der „Geschichte“ an.
Mein Rückblick über die Beziehungen des BOD zu den Orthoptistinnen in der DDR beginnt im Jahr 1973. Hier starteten die ersten Kontakte zu den Kolleginnen im „Osten“. Die leitende Orthoptistin der Ausbildungsstätte für Orthoptistinnen an der Universitäts-Augenklinik Greifswald, Frau Brigitte Dzugga (heute Hadler) hat bei dem damals noch jungen BOD wegen Literatur zu unserem Fachgebiet Pleoptik-Orthoptik nachgefragt, die ich – zu der Zeit frisch im Amt der 1. Vorsitzenden des Berufsverbandes der Orthoptistinnen Deutschlands e. V. – zusammengestellt und zugeschickt habe.
Zwischen uns folgte dann ein regelmäßiger, meist schriftlicher fachlicher Austausch. Das Telefonieren in den Osten und umgekehrt aus dem Osten heraus war zu der Zeit nur unter erschwerten Bedingungen möglich, musste teils angemeldet werden und war dann zeitlich begrenzt. Das kann man sich bei den heutigen digitalen Möglichkeiten ja gar nicht mehr vorstellen.
Im Mai 1975 bot sich die Gelegenheit, Frau Dzugga an der Universitäts-Augenklinik in Greifswald zu besuchen. Brillengestelle, Prismen, Prismenfolien und Fachliteratur wurden im Koffer versteckt. Unser Handwerkszeug wie Okklusionspflaster, Taschenlampe, Stereo-Tests oder Fixierstäbe lagen in einer Tüte im Kofferraum und wurden, bis auf die Frage, zu was die Dinge gebraucht werden, von den sehr strengen Grenzkontrolleuren nicht beanstandet.
Für mich war es sehr interessant zu hören und zu sehen, mit welchen Geräten und Untersuchungsmaterialien dort gearbeitet wurde. Die uns bekannten pleoptisch-orthoptischen Geräte, wie Pleoptophor, Euthyskop, Visuskop, Hess-Schirm und Synoptophore, waren vorhanden und wurden im Ausland bestellt (Schweiz, Westdeutschland, England). Damit wurde auch die stetig wachsende Anzahl der pleoptisch-orthoptischen Abteilungen versorgt. In den 80er Jahren wurde es schwieriger, an Geräte und orthoptisches Material heranzukommen, da die Mittel dafür fehlten. Da wurde dann viel improvisiert. Kleingeräte wie Bagolini-Vorhalter, Worth-Test, Prismenleisten wurden zum Teil im Eigenbau hergestellt.
Mit der Unterstützung von einigen Firmen (z. B. Beiersdorf, Lohmann und Rauscher, Oculus, Trusetal) konnten wir vom BOD aus immer mal wieder Brillengestelle, Stereo-Tests, Bagolini-Brillen und Prismenfolien nach „drüben“ schicken, wobei wir auch damit rechnen mussten, dass einige Pakete nicht ankommen.
Die Entwicklung der Orthoptik und der pleoptisch-orthoptischen Abteilungen in der DDR nahm in den 70er und 80er Jahren dank der Unterstützung des dortigen ärztlichen Arbeitskreises Ophthalmologie und des Ministeriums für Gesundheitswesen der DDR rasanten Aufschwung.
Mit der Unterstützung des Staates entstanden flächendeckend vorwiegend ambulante Einrichtungen für Schielbehandlung. Die Orthoptistinnen arbeiteten an Universitäts-Augenkliniken, in den medizinischen Akademien, Krankenhäusern und in staatlich eingerichteten Augenarztpraxen.
Hinsichtlich der Untersuchung von Kleinkindern und der Früherkennung, nicht nur in unserem Fachgebiet, war uns die DDR meilenweit voraus. Diese erfolgten in den Mütterberatungsstellen und waren gesetzlich vorgeschrieben. Dadurch wurden auch die strabologischen Krankheitsbilder bei Kindern früh und rechtzeitig erfasst und behandelt.
Allerdings gestaltete sich die Versorgung mit Kinderbrillen und Gläsern sehr schwierig. Es fehlten kleine Brillengestelle; auf die Bestellung von Brillengläsern und Prismenbrillen mussten die Eltern und Patienten oftmals sehr lange warten.
Ich habe noch im Ohr, dass die DDR-Kolleginnen nach der Wiedervereinigung sehr bedauert haben, dass mit der Änderung des Gesundheitssystems auch die wirklich gut funktionierende gesetzliche Früherkennung aufgegeben wurde.Zur Fachliteratur und Weiterbildung kann ich Folgendes sagen:
Die einzige Fachliteratur, die wohl wegen einer zu geringen Auflage und des Exports in den Westen für die Orthoptistinnen im Osten schwer zu besorgen war, war der „Krüger“, ein Lehrbuch mit dem Titel „Die physiologischen und methodischen Grundlagen der Pleoptik und Orthoptik“. Dieses Buch, welches mich in meiner Ausbildung und darüber hinaus als wichtiges Nachschlagewerk begleitet hat, erschien 1967 und enthält das fundamentale pleoptisch-orthoptische Wissen für unser orthoptisches „Handwerk“. Prof. Krüger hat darin die wichtigsten Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (z. B. nach Bangerter, Cüppers etc.) ausführlich beschrieben. Aktuelle Fachliteratur aus dem Ausland war evtl. in den Bibliotheken der Kliniken zu bekommen oder aber über private Beziehungen zum westlichen Ausland. Die Weiterbildung der DDR-Orthoptistinnen war nur im eigenen Land möglich. In den 60er und 70er Jahren fanden an den unterschiedlichen Kliniksorten regelmäßig Tagungen für Orthoptistinnen ohne und mit strabologisch interessierten Augenärzten statt. Unsere Bemühungen, einige Kolleginnen aus der DDR zu unseren Tagungen und Kongressen einzuladen, scheiterten meist an der fehlenden Ausreisegenehmigung. Unsere Gesuche, für die bestimmte Formulare ausgefüllt werden mussten, wurden immer wiederabgelehnt.
Aber Ende Dezember 1988 durfte Frau Dzugga (nun Frau Hadler) wegen eines Familienjubiläums in den Westen ausreisen und hat dieses „Ereignis“ auch mit einem Besuch in Nürnberg verbunden, bei dem primär der fachliche Austausch zwischen uns im Vordergrund stand. Leider fand zu der Zeit keine Tagung statt.
Auf der Jahrestagung des BOD am 31.03.1990 in München, also nach dem Mauerfall, konnten wir dann Frau Hadler aus Greifswald begrüßen, die uns während der Mitgliederversammlung über die Situation der Orthoptistin in der DDR berichtete.
Im Jahr 1989 betrug die Zahl der seit 1960 in Greifswald und Leipzig ausgebildeten Orthoptistinnen ca. 500. Noch im Juni 1990 wurde in der nun ehemaligen DDR der Berufsverband der Orthoptistinnen der DDR e. V. (BVO DDR) gegründet. Die Vorsitzende war Gisela Wunsch aus Berlin. Die Gründung eines Berufsverbandes wurde in all den Jahren davor nicht gestattet.
Im November 1990 haben sich die Vorstände des BVO DDR und des BOD während der ophthalmologischen/strabologischen Tagung in Wiesbaden getroffen, um über die Kooperation beider Verbände zu sprechen (siehe 2. Rundschreiben des BVO DDR vom April 1991).
Die zweite Gesprächsrunde der beiden Verbände fand am 05.06.1991 in Verbindung mit der BOD-Mitgliederversammlung während des VII. Internationalen Orthoptik-Kongresses in Nürnberg (02.–06.06.1991) statt (siehe 3. Rundschreiben des BVO DDR vom August 1991).
Da, wie dem Schreiben zu entnehmen ist, der BVO DDR nicht vor der Wende existierte und nicht im Vereinsregister eingetragen war, konnte er als solcher nicht weitergeführt werden. Er hätte sich neu gründen müssen. Daher wurde in Erwägung gezogen, den Mitgliedern den Beitritt in den BOD nahezulegen.
Am 2. November 1991 fand in der Charité/Berlin in Verbindung mit einem Fortbildungsprogramm (siehe Programm) die Mitgliederversammlung des BVO DDR statt, während der die Auflösung des DDR-Verbandes beschlossen werden sollte und wurde. Ich habe dort näher über den BOD informiert. Weiterhin wurde über die Gründung eines BOD-Gremiums „Ost“ und über die möglichen Beitrittsformalitäten in den BOD gesprochen. Aus dem geplanten Gremium „Ost“ wurde dann das BOD-Gremium „Neue Bundesländer“, dem die Kolleginnen Birgit Jantz, Kathrin Merwig (geb. Hering), jetzt Kathrin Wolf und Anette Ueberschär angehörten. Frau Wolf ist schon seit Jahren und immer noch die Regionalleiterin für die Region Mitteldeutschland.
Den Anfragen und dem Bedarf nach Informationen und Fortbildung ist der BOD in den Jahren nach der Wende gerne nachgekommen.
Am 05.09.1992 und am 20.02.1993 fand auf Wunsch der Kolleginnen in der Charité in Berlin weitere BOD-Veranstaltung statt (siehe Programm).
Am 23.04.1994 fand im Hotel Erfurter Hof in Erfurt die BOD-Jahrestagung statt (siehe Programm).
In diesem geschichtsträchtigen Hotel, welches nicht mehr existiert, fand am 19.03.1970 das deutsch-deutsche Annäherungstreffen (sogenanntes Erfurter Gipfeltreffen) zwischen dem damaligen BRD-Bundeskanzler Willy Brandt und dem Ministerrat der DDR Willi Stoph statt.
Unbedingt noch erwähnen möchte ich das ganztägige Regionaltreffen vom 25.03.1995 an der Universitätsaugenklinik Dresden, zu dem Frau Wolf eingeladen hatte. Mein Part waren sehr ausführliche Informationen zur Untersuchung und Behandlung der Amblyopie sowie die Diskussion zu berufsbezogenen Problemen und Fragen. Von dieser Veranstaltung ist mir immer noch eindrücklich in Erinnerung, wie
1. die Kolleginnen ganz selbstverständlich in der Mittagspause ihre mitgebrachten Butterbrote ausgepackt haben – ich selbst hatte nicht daran gedacht, da bei den Ganztagsveranstaltungen des BOD das Catering schon damals gesponsert wurde – und
2. ich die liegengebliebene mitgebrachte englische Literatur von Kongressen der IOA, ISA etc. (zum Verschenken) wieder mit nach Hause nehmen durfte – ich hatte hier auch nicht daran gedacht, dass in der DDR nicht Englisch, sondern Russisch als erste Fremdsprache gelehrt wurde . So lernt man dazu.
Abschließend möchte ich noch auf den wirklich sehr interessanten Beitrag von Frau E. Brunner in der BOD-Fachzeitschrift „orthoptik – pleoptik“ 22/98 zu dem Thema „Die Entwicklung der Orthoptik in der DDR am Beispiel der Augenklinik der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald“ hinweisen. Darin finden Sie auch nähere Informationen zur Ausbildung, zum Gesundheitssystem, zur Früherkennung etc. Frau Brunner selbst war Diplom-Medizinpädagogin, eine Qualifikation, die bei uns damals kaum bekannt war. Die Medizinpädagogen haben sich um den berufspraktischen Unterricht gekümmert. Voraussetzung zum Studium/Fernstudium der Diplom-Medizinpädagogik war die Ausbildung zur Orthoptistin mit einem guten Examen, einige Jahre praktische Arbeit an der Ausbildungsklinik als Lehrorthoptistin (bzw. als Lehrausbilderin, wie es in der DDR hieß.)
Ich danke Frau Brunner/Greifswald, Fr. Wolf/Dresden und dem BOD für die Klärung meiner Fragen, sowie für die Unterstützung und die Suche nach Daten, Programmen etc. für diesen Bericht.
M. Lenk-Schäfer
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