Am 06.02.2019 berichtet dbsv-direkt wie folgt:
"Netzhautchips sind Sehprothesen. Sie werden ins Auge implantiert, um Bilder in elektrische Impulse umzuwandeln und an den Sehnerv weiterzugegeben. Wenn die Netzhaut geschädigt, der Sehnerv aber noch intakt ist – wie beispielsweise bei der Netzhautkrankheit Retinopathia pigmentosa – können diese Chips ein rudimentäres Sehvermögen ermöglichen. Nun hat erstmals ein Gericht bestätigt, dass eine gesetzliche Krankenkasse für einen derartigen Chip und die damit verbundenen Behandlungskosten aufkommen muss.
Dr. Michael Richter von der rbm gGmbH, der Rechtsberatungsgesellschaft des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes e.V. (DBSV), hat die Klägerin in diesem Verfahren vertreten und ihren Anspruch durchgesetzt. Im Folgenden erläutert er für dbsv-direkt das Urteil: "Laut der Entscheidung des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 06.12.2018 (Az.: S 11 KR 250/1) besteht ein Anspruch gemäß § 2 Abs. 1 a S. 1 SGB V. Um die Begründung dafür zu verstehen, muss man etwas weiter ausholen. Bereits in einem Beschluss aus dem Jahr 2005 (Az.: B 1 BVR 347/98) hatte das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass einem gesetzlich Krankenversicherten bei einer lebensbedrohlichen oder tödlichen Erkrankung eine allgemein anerkannte Behandlung zur Verfügung gestellt werden muss, wenn eine Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Entwicklung des Krankheitsverlaufs besteht. Das Bundessozialgericht (BSG) hatte im Anschluss diese verfassungsgerichtliche Vorgabe konkretisiert. Danach verstößt es gegen das Grundgesetz, wenn eine Krankenkasse die Leistung verweigert, nur weil eine Behandlungsmethode vom zuständigen Gemeinsamen Bundesausschuss noch nicht anerkannt ist. Die Krankheit muss zudem nicht unbedingt lebensbedrohlich oder tödlich sein – es reicht vielmehr, wenn sie "wertungsmäßig damit vergleichbar" ist, was auf eine drohende Erblindung zutrifft (BSG, Az.: B 1 KN 3/07 KR R und Az.: B 1/3 KR 22/08 R).
Das Sozialgericht Gelsenkirchen beruft sich nun auf diese Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes und des Bundessozialgerichtes. Die Klägerin im vorliegenden Fall ist zwar bereits erblindet, aber die Möglichkeit, eine bereits bestehende Erblindung in spürbarem Maß rückgängig zu machen, ist nach Überzeugung des Gerichtes mit einer drohenden Erblindung vergleichbar. Hinzu kommt, dass für die Erkrankung der Klägerin keine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung zur Verfügung steht.
Laut Gericht kann die Behandlung mit einem Netzhautchip eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf der Klägerin haben. Das eingeholte Sachverständigengutachten bestätigt die Möglichkeit, das Sehvermögen funktionell wiederherzustellen (Sehschärfe von bis zu 3,7 Prozent, Gesichtsfeldzunahme von 10 bis 15 Grad). Nach Überzeugung des Gerichts kann dieses Sehvermögen die Lebensqualität der Klägerin erheblich verbessern. Die Erblindete könne sodann wieder Schatten erkennen und sich beispielsweise in einem Raum wesentlich sicherer bewegen. Außerdem ist das Implantieren einer Netzhautprothese auch nach Meinung der augenärztlichen Fachgesellschaften eine Therapieoption.
Insgesamt kommt das Sozialgericht Gelsenkirchen somit zu dem Ergebnis, dass bei erblindeten Menschen, denen durch einen Netzhautchip wieder zu etwas Sehvermögen verholfen werden kann, eine notstandsähnliche Situation vorliegt. Diese begründet einen Anspruch gegenüber den gesetzlichen Krankenkassen auf diese Behandlung, sofern keine Behandlungsalternative vorliegt."
Was bedeutet das Urteil für Menschen, die über eine solche Behandlung nachdenken? Dazu Angelika Ostrowski, Koordinatorin des DBSV-Beratungsangebotes Blickpunkt Auge: "Natürlich ist vorab immer erst einmal zu klären, ob diese Behandlung tatsächlich in Frage kommt, was man erwarten kann und welche Risiken bestehen. Hier hilft Blickpunkt Auge weiter, um die Ansprechpartner in den Kliniken zu finden und die Gespräche mit diesen Experten vorzubereiten. Leider ist das Urteil noch nicht rechtskräftig, weil die Gegenseite Berufung eingelegt hat. Sollte es rechtskräftig werden, wird es sicherlich sehr hilfreich sein, um den Anspruch auf Kostenübernahme gegenüber der Krankenkasse durchzusetzen."